Interview mit Boris Mijatovic zu den olympischen und paraolympischen Spielen in Paris 31. Juli 20242. August 2024 Boris, Du warst zur Eröffnung der olympischen und paralympischen Spiele in Paris. Wie war Dein erster Eindruck? Um ehrlich zu sein, ich war etwas erschrocken. Ich kenne Paris als eine quirlige Stadt mit hohem Verkehrsaufkommen, vielen Touristen und jede Menge Betrieb. Als wir, Felix und ich, vier Tage vor der Eröffnung ankamen, war all dieser Betrieb irgendwie verschwunden. Das war schon am Ostbahnhof Gare de l’est zu sehen, wo wir Marc und Mathilde von der Heinrich-Böll-Stiftung trafen. Unser Weg führte uns in ein sonst sehr volles Café, was zu diesem Zeitpunkt, Dienstag nachmittag, komplett leer war. Aber die Stadien sind über die Stadt verteilt. Das olympische Dorf sogar im Norden, in Saint-Denis, außerhalb des Stadtrings „Perepherique“. Warum trotzdem so eine Leere? Der Grund ist die Eröffnung auf der Seine. Im Herzen der Stadt wurde der Fluss beidseitig auf sechs oder mehr Kilometer gesperrt und zur Sicherheitszone gemacht. Zudem wurden Spielstätten am Eiffelturm und auf dem Place de la Concorde eingerichtet. Sicher superschöne Bilder. Aber sicherheitstechnisch der Grund, warum die Stadt lahmgelegt ist. Ohne einen Sicherheitsausweis, den „Pass Jeux“, geht hier gar nichts. Kein Verkehr, kein Auto, kein Fahrrad, kein Fußgänger. 44.000 Absperrzäune, 45.000 Polizisten – Paris befand sich im Ausnahmezustand. Das ist schon krass und der Preis für die beispiellose Kulisse und Eröffnungsfeier. Wie reagieren die Menschen in Paris, freuen die sich noch auf die Spiele? Paris ist Staatsbesuche, Messen, Sportgroßveranstaltungen wie die Tour de France, die in diesem Jahr ausnahmsweise in Nizza endete, und viele Millionen Touristen jedes Jahr gewohnt. Aber das hat eine neue Dimension. Die Stimmung ist daher sehr unterschiedlich. Manche freuen sich auf Olympia, andere vermissen die Bewegungsfreiheit, und auch das Geschäft mit den Touristen leidet. Beispiel Unterbringung: die Hotelpreise sind eine Zeit lang durch die Decke gegangen in der Erwartung, dass die Stadt viele Gäste haben wird. Das ist nicht eingetreten, weil viele Tickets im Land verkauft wurden und die Menschen privat unterkommen oder Tagesreisen machen. Und auch weil viele Touristen wegen zu hoher Hotelpreise weggeblieben sind. Aktuell sind die Hotelpreise wieder auf „Normalniveau“ zurück. Die vergangenen Spiele haben viele Debatten ausgelöst. Zum Beispiel beim Aufbau der Infrastruktur, Unfälle auf Baustellen, Ausbeutung von Arbeitskräften, soziale Standards. Was sind die zentralen Aspekte, auf die wir in Paris achten sollten? Eine Menge. Positiv sind auf jeden Fall diverse soziale Konzepte. Wir haben uns mit dem Gewerkschafter Bernard Thibault getroffen, ein sehr erfahrener Mann, der Frank Bsirske Frankreichs. Er sagte uns, die großen fünf Gewerkschaften haben zusammen einen Forderungskatalog aufgemacht. Dazu gehört, dass für Baustellen zu den Spielen Langzeitarbeitslose gefunden, ausgebildet und eingesetzt werden sollten. Die anfängliche Quote von 10 Prozent wurde am Ende mit über 20 Prozent mehr als erfüllt. Zudem die Sicherheit im Bausektor: Frankreich ist darin traditionell schlecht aufgestellt. Für die Spiele wurden Arbeitssicherheit, Kontrolle und Schulungen zur Pflicht. Ein Erfolg, der sich an der Zahl der deutlich reduzierten Unfälle ablesen lässt. Letztes Beispiel in dieser Kategorie: das System der Subunternehmer wurde angegangen. Unternehmer, die Aufträge zu den Spielen übernahmen, durften nur maximal einen Subunternehmer beschäftigen. Damit gelang die Wahrung von Standards im Arbeitsrecht. Derart positive Beispiele gibt es noch einige mehr. Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von MdB Boris Mijatovic (@boris.mijatovic) In der Infrastruktur sind auch viele Recyclingkonzepte und nachhaltige Ziele zum Tragen gekommen. Was ist Dein Eindruck hier? Auch hier setzt Paris neue Maßstäbe, beim Ressourceneinsatz, für die Kreislaufwirtschaft wie auch bei der Nachnutzung mancher Infrastruktur. Viele Materialien sind nachwachsende Rohstoffe wie beispielsweise Holz. Man versucht Plastik zu vermeiden, überlegt Konzepte für die Rückführung der Aufbauten in die Kreislaufwirtschaft. Aber manche Sachen zeigen dann doch, dass der Termindruck und die schiere Menge an Gästen nicht alles erreichbar macht. Zur Eröffnung waren Felix und ich im Stehplatzbereich am Anfang des Einlaufs der Nationen. Hier wurden Getränke verkauft, wobei Dosen umgefüllt wurden in recyclebare Plastikbecher. Ich dachte, da wären die Industrie schon weiter. Wie ist die Barrierefreiheit der Infrastruktur? Hat die Stadt die Spiele dafür genutzt? Nein, die Lage ist für Menschen im Rolli, seheingeschränkte Personen, ältere Menschen weiterhin katastrophal. Ich weiß nicht, wie viele hundert Metro Stationen es gibt. Aber nur ein Bruchteil ist barrierefrei. Die Veranstalter geben sich sehr viel Mühe, keine Frage. Und die Aufgabe, Paris barrierefreier zu machen ist immens. So sagte uns das auch die Vorsitzende der Défenseur des Droits, vergleichbar mit unserer Antidiskriminierungsbeauftragten. Aber auch hier wieder ein Bild aus der Eröffnung: In unserem Abschnitt, etwa einen Kilometer lang, gab es nur eine einzige Stelle mit behindertengerechten Toiletten, dafür aber gleich 15 auf einmal. Es sind solche Dinge, über die Du ständig stolperst. Der Wille ist da, aber die Umsetzung bringt Dich um den Verstand. Hinterher heißt es, wir hatten x-tausend behindertengerechte Toiletten. Ja, aber an zwei Orten, oder so. Die Spielorte sind in viele Arenen in der Stadt verteilt. Das olympische Dorf befindet sich im sozialen Brennpunkt Saint-Denis. Wie kommen die Spiele dort an? Auch hier ein differenziertes Bild. Es gibt viele, die sich über die Neubauten freuen. Das Department 93 ist eines der ärmsten in Frankreich und zugleich eines mit dem niedrigsten Altersschnitt. Das heißt, Sportinfrastruktur gerade für junge Menschen wird hier dringend gebraucht. So freut sich der Bürgermeister riesig über das olympische Schwimmbecken, weil es nach den Spielen der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Auch die Gebäude des olympischen Dorfes sollen im Anschluss als Studentenwohnheime genutzt werden. Aber insgesamt haben sich viele Menschen mehr Jobs und langfristige Perspektiven von den Olympischen Spielen versprochen Die sind nicht eingetreten. Der Vorort Saint-Denis und das Department 93 haben früher schon für viele Schlagzeilen gesorgt. Der Film „La Haine – Der Haß“ über Jugendgewalt aus den 1990er Jahren spielt hier. Letztes Jahr wurde ein 17-jähriger Junge von einem Polizisten erschossen. Es kam zu landesweiten Protesten. Funktionieren die Spielorte in dieser Umgebung? Der Bürgermeister und viele andere haben diese Entscheidungen für den Stadtteil zur Chance erklärt. Sie sagen: wir sind der ärmste Stadtteil in Frankreich, wir haben die jüngste Bevölkerung, die vielfältigste Bevölkerung in Sachen Herkunft. Und zugleich haben wir die wenigsten Sportstätten. Insofern besteht hier eine Chance auf Entwicklung. Zugleich hat es Vertreibungen gegeben. Ein Flüchtlingslager ist geräumt worden und die Menschen wurden aus der Stadt verfrachtet. Der Staat hat hier seine Macht zu weitgehend eingesetzt und unverhältnismäßig überzogen. Woran machst du das fest? Als im letzten Jahr dieser Junge von einem Polizisten erschossen wurde, kam es zu landesweiten Protesten. Der Staat hat mit sehr schneller und harter Hand reagiert. Dafür kamen Schnellverfahren, die sogenannten Comparution Immédiate, zum Einsatz, die bereits unter Sarkozy eingerichtet wurden. Im Austausch mit der Menschenrechtsliga, Ligue des droits de l’homme, wurde klar, dass diese Schnellverfahren, äußerts fragwürdig und ungerecht sind (siehe auch: https://taz.de/Repressives-Justizsystem-in-Frankreich/!5946541). Ein zweites, sehr krasses Beispiel für den Übergriff des Staates sind die Vertreibungen der Obdachlosen, der Flüchtlinge, der „sans-papiers“. Hier hat der Staat im letzten Jahr 12.500 Menschen aus der Stadt verfrachtet. Dies wurde dokumentiert von „Le revers de la médaille“ – die Kehrseite der Medaille, einem Kollektiv von 104 Organisationen. Mit Bussen hat die Administration die Menschen nach Lille, Orléans und andere Orte gebracht. Drittes Beispiel: in der Stadt sind 45.000 Polizisten und mehrere tausend Soldaten im Einsatz. Die Kontrollen sind intensiv, und nicht mal jeder Pariser findet sich auf dem Weg durch die Stadt zu Recht. Mehr als einmal wurden wir Zeugen von intensiven Debatten zwischen Bürger*innen und Polizei. Am Donnerstag sind offensichtlich drei Jungs, zwei Russen und ein Deutscher, verhaftet worden, weil sie eine Absperrung übersprungen haben. Die haben dann die Nacht in einer Zelle verbracht. Die Situation ist angespannt und der Staat geht sehr weit. Sicherheit ist für die Besucher der Spiele doch unerlässlich. Ist es da nicht notwendig, diese Maßnahmen zu machen? Muss man eine mega Eröffnung kilometerlang an der Seine machen und damit 2 Millionen Einwohner, die im Herzen der Stadt leben, um ihre Bewegungsfreiheit bringen? Sicherheit ist ein Riesenthema, aber wen treffen denn die Maßnahmen samt umfassender Videoüberwachung als erstes: Menschen, die die Gesellschaft ohnehin schon ausgegrenzt und am Existenzminimum leben. Ich finde, da muss schon drüber gesprochen werden, was uns unsere Freiheit wert ist. Ich halte nicht viel davon, wenn unbescholtene Menschen unter dem Deckmantel der Sicherheit aus der Stadt zu verfrachten. Gibt es weitere kritische Perspektiven auf die Spiele? Ja, einige. Natürlich gibt es Korruptionsaffären, nicht so stark wie bei der FIFA. Aber eben doch sehr viele. Die Frage ist doch: wie gehen die Austragungsorte mit den Konflikten in der Stadtentwicklung, in der Nachhaltigkeit, in der Sicherheit, wie geht der Staat mit diesen Fragen um. Paris hat ohne Zweifel einige sehr spannende Konzepte in der Vorbereitung der Spiele gezeigt und umgesetzt. Wichtig und gut ist auch das Signal an die russische Föderation, die hier mit gerade mal 16 Sportler*innen unter neutraler Flagge antritt. Aber in manchen Dingen geht der französische Staat einfach zu weit. Dieser Blödsinn mit dem Kopftuchverbot, ich dachte wir wären da schon weiter. Manches bleibt einfach unsere Aufgabe in der Politik und in der Gesellschaft. Wir müssen Herausforderungen und auch Fehler der Entscheidungsträger*innen benennen, ohne dass damit der Spaß am Sport und das friedliche Treffen der Nationen untergraben wird. Ich bleibe Fan des Sports und der Spiele und habe doch viele Fragen. Also im Fazit: Du freust Dich auf die Spiele? Wie jeder Sportfan auf der Welt freue ich mich auf die sportlichen Wettbewerbe. Na klar. Wir waren bei der DOA, der deutschen Olympischen Akademie, die zusammen mit der Sportjugend den deutsch-französischen Jugendaustausch organisieren. Da werden von den jungen Leuten auch sehr kritische Fragen gestellt: Warum darf ein vorbestrafter Sexualstraftäter, der eine 12-jährige vergewaltigt hat, an den Spielen teilnehmen? Oder auch die Frage nach Lieferketten und Fluchtursachen: Warum können wir Arbeitsschutz nicht auch in den Fabriken in Asien, wo die Textilien hergestellt werden, nicht zur Vorgabe für den deutschen Markt machen? Auch die Initiative von Climatosportifs hat mich sehr beeindruckt. Da sind Sportler*innen selbstständig landesweit unterwegs und setzen beim klimaneutralen Verhalten an. Also praktisch: Dein American Football Team fährt nicht mit dem eigenen Bus von Paris nach Bordeaux, sondern mit dem Zug. Wenn man weiß, dass hier 40 Leute reisen und einiges an Gepäck haben, kann man sich die Aufgabe der Umstellung auf den öffentlichen Personenverkehr vorstellen. Ja, mein Fazit ist, ich freue mich auf die Wettbewerbe und über die vielen tollen Ideen, die viele Leute in Frankreich gerade zu diesen Spielen auf den Weg gebracht haben. Wie stehst Du zu einer deutschen Bewerbung Berlin 2040? Der Preis für die Ausrichtung so einer Sportgroßveranstaltung ist immens: Infrastruktur, Industrie, Sicherheit. Es kommt da einiges zusammen. Für mich ist eine der Schlussfolgerungen meiner Reise nach Paris, dass die Menschen in der Stadt, in der die Olympischen und Paralympischen Spiele stattfinden, Bock darauf haben müssen. Für die Bewerbung Berlin 2040 heißt dies konkret: Die Mehrheit der Berliner*innen müssen das wollen, mit allen Vor- und Nachteilen. Denn es wird Kritik geben, dafür ist das Paket zu groß. Aber ich bin auch überzeugt, dass die Chancen einer solchen Ausrichtung überwiegen. Ich traue Berlin ein Ja zu. Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von DFOJL – COFAJ (@olympisches_jugendlager)
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