HNA-Interview vom 16.05.2023 : Kasseler Wahlbeobachter zu Erdogan: „Die Türkei-Wahl ist wie ein Feiertag“

Boris Reichstaggebaeude Mai2023

Istanbul/Kassel – Im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl in der Türkei hat es keinen Sieger gegeben. Die Abstimmung wurde auch von Boris Mijatovic mit Spannung verfolgt. Der Kasseler Grünen-Bundestagsabgeordnete war von Donnerstag bis Sonntag als Mitglied der parlamentarischen Versammlung der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) als Wahlbeobachter in Istanbul. Wir sprachen mit ihm über seine Eindrücke sowie Präsident Recep Tayyip Erdogan und seinen Herausforderer Kemal Kiliçdaroglu, die am 28. Mai in der Stichwahl gegeneinander antreten.

Wahlbeobachter der Linken klagen, dass sie durch bewaffnete Polizisten gehindert worden seien, Wahllokale zu betreten. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Für Istanbul kann ich das überhaupt nicht bestätigen. Alles, was wir hier mitbekommen haben, wirkte sehr aufgeräumt und geordnet. Auch von Auseinandersetzungen, die es vereinzelt in und vor Wahlbüros gegeben haben soll, habe ich nichts mitbekommen. Neben uns neutralen Beobachtern waren übrigens in allen Wahllokalen immer mindestens drei Leute der AKP, der CHP und von anderen Parteien anwesend, um die Abläufe zu beobachten.

Die Opposition wirft der Nachrichtenagentur Anadolu manipulative Berichterstattung vor. Zudem soll Erdogans Partei AKP die Stimmauszählung verzögert haben. Sind die Vorwürfe zutreffend?

Wenn man den Wahlkampf und die Berichterstattung darüber beobachtet hat, ist eine fehlende Balance nicht zu übersehen. Die Medien haben deutlich häufiger über Erdogan berichtet – und auch weniger kritisch als über seinen Herausforderer Kiliçdaroglu. Zur Auszählung: Grundsätzlich wird mit allen Tricks gearbeitet, um die Wahl für sich zu entscheiden. Es heißt ja: Für einen ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Bei uns will die SPD übrigens auch immer, dass ihre starken Stadtteile zuerst ausgezählt sind. Oder warum lagen bei der Kasseler OB-Wahl als Erstes die Ergebnisse aus dem Forstfeld vor?

Vielleicht, weil es einer der kleinsten Stadtteile ist. Inwiefern ist die hohe Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent überraschend?

Das war für mich die spannendste Erfahrung. Nicht einmal nach der Wiedervereinigung hatten wir in Deutschland eine annähernd so hohe Wahlbeteiligung. Von so etwas träumen wir. Eine Wahl ist in der Türkei wie ein Feiertag. Die Menschen gehen vielfach schon morgens in die Wahllokale und zelebrieren das. Überall ging es sehr konzentriert zu. Die Türken sind sich der Verantwortung sehr wohl bewusst, die eine Wahl bedeutet. Mein Übersetzer sagte mir: „Wir haben sonst nicht viel zu sagen. Dies ist die einzige Gelegenheit, bei der wir auch mal mitreden dürfen.“

Wie wird sich die Türkei politisch entwickeln, sollte Erdogan gewinnen?

Klar ist in jedem Fall, dass die Spaltung, die sich im Wahlergebnis abbildet, dem Land nicht guttut. Wer auch am Ende gewinnen wird – er muss dem Land eine Zukunft anbieten. Es braucht dringend gesellschaftliche und wirtschaftliche Reformen. Erdogan will das Land weiter nach seinem Präsidialmodell umbauen. In Gesprächen sagten mir jedoch viele, dass sie stolz auf ihre Demokratie seien. Zudem schauen viele nach Deutschland und Europa. Immer wieder hörten wir: „Almanya super.“ Eine Ostorientierung wird die Türkei nicht glücklich machen.

Manche befürchten bei einem Sieg von Kiliçdaroglu Ausschreitungen von Erdogan-Anhängern.

Das glaube ich nicht. Die Türkei ist demokratisch gefestigt. Zudem hat Kiliçdaroglu mehrfach gesagt, dass seine Anhänger auf Autokorsos und Provokationen verzichten sollen. Wir werden sehen, wie es in den zwei Wochen bis zur Stichwahl verläuft. Die OSZE macht mit ihrem Bericht keinen Wahlkampf. Wir sind neutrale Beobachter.

In Deutschland gehören traditionell viele Türken dem Erdogan-Lager an. Welche Eindrücke haben Sie etwa in der Kasseler Community gemacht?

Es stimmt, dass in der Vergangenheit viele Erdogan gewählt haben – wie viele in der Türkei auch. Mittlerweile gibt es hinter der Euphorie jedoch einige Fragezeichen. Auch von Deutschland aus ist die Wirtschaftskrise in der Türkei nicht zu übersehen. So wie es aussieht, wird es am 28. Mai eine ganz enge Kiste.

(Matthias Lohr)/HNA vom 16.05.2023

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